Die diesjährige Annemarie-Schimmel-Lecture wurde kunstvoll gerahmt von den musikalischen Beiträgen des iranisch-israelischen Duos Orainab Mashayekhi (Ermia) und Alon Wallach.
Dr. Christian Jasper begrüßte die Rednerin und alle anwesenden in seiner Rolle als Hausherr im Bonner Münster. Er unterstrich dabei die Bedeutung des Bonner Münsters als Ort, „an dem Menschen unterschiedlicher Generationen sich mit den Fragen der Gegenwart auseinandersetzen“. Insbesondere betonte er hierbei die Möglichkeit der interreligiösen Begegnung, die durch den dort angesiedelten Room of One bereits ihren Platz gefunden hat.
Die Bedeutung des akademischen Wirkens von Prof. Charlotte Fonrobert stellte Oberkirchenrat Dr. Andreas Herrmann, Referent für interreligiösen Dialog bei der Evangelischen Kirche in Deutschland, heraus. Er unterstrich dabei die innere Verbindung des vorgetragenen Themas mit Fonroberts bisheriger Vita. Hierbei hob er ihre Verdienste im Bereich talmudischer Studien aus feministischer und interreligiöser Perspektive hervor, wobei Fonrobert insbesondere dazu beitrage, „dem Talmud als Zeugnis jüdischer Lebendigkeit auch heute noch einen Ort in unserer Gegenwart zu geben“.
Im Herzen der Veranstaltung stand die Lecture von Prof. Charlotte Fonrobert selbst. Dabei ging Fonrobert von dreierlei „Gegenwarten“ des rabbinischen Judentums aus: Die neueste Gegenwart seit dem Angriff der Hamas am 7. Oktober 2023, die neuere Gegenwart seit der Gründung des Staates Israel sowie die längere, jüdische Gegenwart seit dem Verlust des Tempels während der jüdischen Kriege der ersten zwei Jahrhunderte. Fonrobert stellte dabei die enorme, identitätsstiftende Leistung des rabbinischen Judentums heraus, den Verlust des eigenen Landes produktiv verarbeitet zu haben. Während das Land Israel genuiner Sehnsuchts- und Bezugsort des jüdischen Volkes blieb, so wurde doch auch die babylonische Fremde als Geburtsort des Stammvaters Abraham und damit als eigentlicher Herkunftsort und damit als Heimat des Judentums rekonstruiert. Dieser Idee folgend, zeigte Fonrobert neue Wege auf, das Diaspora-Judentum in der Gesellschaft der Gegenwart zu verorten. Eine entscheidende Rolle maß dabei Fonrobert dem öffentlichen Raum der Nachbarschaft zu. Das Judentum des Talmud ziehe sich „nicht in die Wände des Häuslichen zurück, sondern erschließe sich vor allem den städtischen Raum“ als Ort ritueller Praxis und gemeinschaftlicher Begegnung. Das Potenzial einer solchen Verortung des Judentums in den nachbarschaftlichen Kontexten wird Fonrobert in den kommenden zwei Vorlesungen am 25. Juni und 2. Juli im Festsaal der Universität Bonn weiter entfalten.
Im anschließenden Zwiegespräch diskutierten Prof. Fonrobert und Prof. Klaus von Stosch Grenzen und Chancen einer solchen Rekonstruktion räumlicher Identität. Dabei kamen auch aktuelle Entwicklungen in Gesellschaft und Politik zur Sprache. In Bezug auf den Staat Israel betonte Fonrobert dabei die Mittlerrolle zwischen Zionismus und Diasporismus, die sie mit ihrer Position einnehmen will. Hierbei werde nicht nur die „Fremde zur Heimat, sondern auch die Heimat zur Fremde“, was zu einer Schwächung nationalistischer Denkfiguren führen könnte und wiederum positive Impulse zur Versöhnung setzen könne. Dabei hielt von Stosch fest, dass sich so innerhalb dieser Denkfigur „Israel zu einem Staat wandeln könnte, der nicht nur Juden Heimat bietet“.